Die Realität: Wir kommen nicht komplett vom Öl weg, zumindest nicht gleichzeitig, überall und mit derselben Strategie. Aber: Wir sind weiter als viele denken. Und trotzdem langsamer als wir müssten.
Wir reden oft darüber, wie wir uns vom Öl befreien wollen. Meist geht’s dabei um Strom und Heizung. Weniger über das, worin Öl wirklich klebt: Chemie, Landwirtschaft, Plastik, Schwerindustrie, Transport, Bau, Logistik. Also all das, was nicht einfach mit einem Solarpanel auf dem Dach gelöst ist.
1 | Chemie & Grundstoffe – ohne Öl molekularer Mannschaftssport
Ersatzpfad | Stand 2025 | Hürden |
---|---|---|
E‑Methanol & E‑Naphtha (CO₂ + H₂ als Rohstoff) | Erstes Werk in Dänemark seit April 2025 in Betrieb; BASF, Sabic, Dow haben Pilotreaktoren | Stromhunger ↗, grüner Wasserstoff teuer; Skalierung < 1 % des Bedarfs reuters.com |
Elektrisch beheizte Steam‑Cracker | Linde/Shell‑Pilot (Hamburg) schafft 2024 2 t/h statt 400 t/h | 100‑MW‑Stromanschluss pro Crackofen – Netze fehlen |
Thermoplasma‑Elektrolyse für Ammoniak | 5‑MW‑Demo in Texas | Wirkungsgrad erst ~50 % – Kosten × 3 ggü. Haber‑Bosch reuters.com |
Ohne massiven Ausbau von grünem Strom, Wasserstoff‑Pipelines und CO₂‑Abscheidung bleibt die Chemie bis 2040 größtenteils fossil. Technik‑Blaupausen existieren – das Geschäftsmodell nicht.
2 | Plastik – zwischen Biopolymer Hype und Recycling Realität
- Bio‑basierte Kunststoffe decken heute gut 1 % des Weltbedarfs; Kosten liegen 20‑50 % über Standard‑Polymeren chemicalresearchinsight.com. Landnutzung, Preis und Materialeigenschaften begrenzen das Tempo.
- Chemisches Recycling (Pyrolyse, HydroPRS): 340 Anlagen angekündigt; < 1 Mio. t Jahreskapazität real – ein Klacks bei > 400 Mio. t Weltproduktion. Shell hat sein 1‑Mio.-t‑Ziel für 2025 schon eingestampft theguardian.com, trotzdem bauen Exxon und Mura neue Werke recyclingtoday.comreuters.com.
Was fehlt? Billiger Ökostrom, klare Recyclingquoten, ein globaler Abfallmarkt – und, ehrlich gesagt, weniger Verpackung überhaupt.
3 | Stahl und Zement – die Schwergewichte
- Grüner Stahl (H₂‑DRI): Nur ein halbes Dutzend Mini‑Anlagen weltweit. ArcelorMittal hat Großprojekte in Spanien/Frankreich auf Eis gelegt, weil Strom‑ und H₂‑Kosten zu hoch bleiben h2-view.com.
- Zement: Pilotöfen mit elektrischem Plasma und karbonatfreiem Klinker existieren, erreichen aber erst Labor‑Skala.
Ohne CO₂‑Preis > 150 €/t und Grünstrom‑Flut bleibt das Schwergewicht fossil.
4 | Landwirtschaft – von Landwirtschaft bis ins Eiweißbioröhrchen
Spur | Status | Lücke |
---|---|---|
Grüner Ammoniak (H₂ + N₂) | Projekte in Indonesien, Australien, Afrika; Produktion vor 2030 < 2 Mt/a argusmedia.comnewatlas.com | Kosten > 700 $/t vs. 300 $ für Erdgas‑Ammoniak |
Präzisionsfermentation / Alternativprotein | 45 Start‑ups, < 0,1 % Fleischmarkt | Kapital, Skalierung, Akzeptanz |
Notfalls ließe sich Dünger durch Leguminosen & Kreislaufwirtschaft halbieren – kostet Ertrag und Fläche.
…X | Dröseln wir es doch nicht weiter auf, schauen wir auf alle Sektoren
Sektor | Ersatzpfad(e) | Globaler Stand 2025 | Hürden weltweit |
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Energie | Wind, Solar, Wasserkraft, Atom, Biomasse | ~30 % erneuerbare Stromerzeugung weltweit | Investitionen im Globalen Süden, Netzstabilität, politische Unsicherheit |
PKW-Verkehr | Batterie, Hybrid, Wasserstoff | ~12–15 % E-Anteil bei Neuzulassungen global | Preis, Infrastruktur, vor allem in Afrika/Südamerika/Indien |
LKW & Logistik | Batterie, H₂, Biofuels, E-Fuels (Nischen) | <1 % elektrifiziert weltweit | Gewicht, Reichweite, Infrastruktur, hohe Kosten |
Schifffahrt | LNG, Methanol, Ammoniak, Wind (ja, ernsthaft!) | ~0,5 % mit alternativen Antrieben | Treibstoffproduktion, Hafeninfrastruktur, globale Regularien |
Luftfahrt | SAF (Sustainable Aviation Fuels), PtL | <0,2 % SAF-Anteil am globalen Kerosinbedarf | Extrem geringe Produktionskapazitäten, hohe Preise |
Bauwesen | E-Baumaschinen, Bio-Kraftstoffe, H₂ | <0,5 % weltweit elektrifiziert | Ladeinfrastruktur, Energiebedarf, hohe Maschinenkosten |
Landwirtschaft | Biofuels, E-Traktoren, Methanmotoren, H₂ | <1 % weltweit alternativ betrieben | Preis, fehlende Technik in Entwicklungsländern, Tanklogistik |
Plastik & Chemie | Biokunststoffe, Recycling, CO₂-basiertes Material | <3 % alternativer Anteil weltweit | Öl ist billig, Bioplastik teuer, fehlende Nachfrage |
Dünger & Industrie | Grüner Wasserstoff, Elektrolyse, Kreislaufwirtschaft | <1–2 % grüne Umstellung | Hoher Strombedarf, keine Infrastruktur, wenig Industrieinitiativen |
…und stellen diesen den Klimazielen entgegen:
Sektor | Klimaziel global bis 2050 | Ist-Zustand 2025 | Delta / Herausforderungen |
---|---|---|---|
Energieerzeugung | >85 % CO₂-frei weltweit | ~30 % | Hohe Investitionen nötig, Netze in Entwicklungsländern |
Verkehr gesamt | 90–100 % CO₂-neutral | ~3 % global elektrisch | Technologie da, aber kein Zugang für Großteil der Welt |
Industrie (Prozesse) | 90 % CO₂-neutral | <10 % mit Pilotprojekten | Zu teuer, wenig Druck, Politik zögerlich |
Chemie & Kunststoffe | 80 % biobasiert/recycelt | <3 % weltweit | Keine Märkte, keine Skalierung |
Landwirtschaft & Dünger | 70 % klimaneutral | <2 % alternativ | Billiger Stickstoff dominiert, Alternativen unterentwickelt |
Schwerverkehr & Schiffe | 90 % CO₂-frei | <1 % | Technologie existiert, Einsatzkosten zu hoch |
Der Realitätsabgleich
Ja, technologisch geht vieles. In der Theorie könnten wir morgen fossilfrei bauen, transportieren und fliegen. Nur kosten diese Lösungen eben ein Vielfaches – und oft fehlen schlicht Ressourcen oder politische Rahmenbedingungen.
Was ist also der Plan?
Der offizielle Leitgedanke lautet: „Technologieoffenheit“. Was in der Praxis oft bedeutet: Wir probieren alles mal an – und schauen, was am wenigsten teuer wird. Für die Energie ist der Pfad relativ klar. Für alles andere gilt: Wer’s zuerst skaliert, gewinnt.
Ob das Ziel realistisch ist? Technisch vielleicht. Wirtschaftlich? Politisch? Gesellschaftlich? Das wird sich zeigen.
Der Elefant im Raum
Europa kann sich eine Energiewende leisten. Afrika, Südostasien, große Teile Südamerikas eher nicht.
Hier fehlt Geld, Infrastruktur, politische Stabilität. Öl bleibt dort oft alternativlos – und günstig.
Ein kompletter globaler Öl-Exit bis 2050? Unwahrscheinlich.
Ein sektorweise Rückzug im globalen Norden? Sehr wahrscheinlich.
Wird das reichen? Nein – aber es kann den Anfang markieren.
Fazit: Ist der globale Ausstieg aus Öl realistisch?
Technologisch: ja, in fast allen Bereichen gibt es Ansätze und Alternativen.
Politisch & wirtschaftlich: nein, noch lange nicht. Der Großteil der Weltbevölkerung lebt in Regionen, in denen entweder die Kaufkraft fehlt, der Zugang zur Technik nicht besteht oder die politischen Systeme nicht die nötige Richtung vorgeben.
Öl ist noch immer das wirtschaftlich bequemste Mittel, um Entwicklung voranzutreiben. Und solange das so ist, wird Afrika, Südamerika, weite Teile Asiens und sogar große Teile der USA und Osteuropas nicht in absehbarer Zeit aussteigen. Die Lösung müsste also nicht nur technischer, sondern auch sozial- und entwicklungspolitischer Natur sein.
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