Deutschlands Ölstrategie: Zwischen Restförderung, Importabhängigkeit und Kavernen

Deutschland fördert noch Erdöl – wenn auch nur in homöopathischen Dosen. Etwa 1,6 Millionen Tonnen pro Jahr stammen aus inländischen Lagerstätten, größtenteils in Niedersachsen. Bekannte Namen: Mittelplate (offshore in der Nordsee), Rühlermoor, Emlichheim oder Steimbke. Wirtschaftlich rechnet sich das für die Betreiber noch, weil die Infrastruktur längst steht, die Felder bekannt sind und der Betrieb inzwischen auf Wartungsmodus läuft. Neu exploriert wird kaum noch. Politisch und klimatisch ist die Richtung ohnehin klar: Bis spätestens 2045 – Stichwort Klimaneutralität – ist damit Schluss.

Der tatsächliche Verbrauch liegt dagegen bei knapp 92 Millionen Tonnen jährlich, also etwa 98 % Importquote. Das Rohöl kommt vor allem per Schiff und Pipeline – inzwischen nicht mehr aus Russland, sondern von Partnern wie Norwegen, den USA, Libyen, Kasachstan oder Großbritannien. Dass Deutschland in dieser Hinsicht vollständig auf Exporte angewiesen ist, ist kein neuer Zustand – man hat sich über Jahrzehnte ein recht robustes System gebaut: mehrere Importwege, redundante Logistikketten und eine gut ausgebaute Raffinerielandschaft. Die klassischen Zugänge laufen über die Häfen in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Rostock oder Hamburg sowie die Pipelineanbindung aus Schwedt, Leuna und Karlsruhe.

Was passiert, wenn der Nachschub stockt? Dafür gibt es den Erdölbevorratungsverband (EBV). Der ist gesetzlich verpflichtet, eine strategische Reserve in Höhe von 90 Tagen Nettoimportmenge vorzuhalten. Die Praxis sieht so aus: Aktuell lagern rund 24 Millionen Tonnen an Rohöl und Mineralölprodukten – darunter Diesel, Heizöl, Jet A‑1 und Ottokraftstoffe. Die Verteilung ist teils oberirdisch (bei Produkten), teils unterirdisch in sogenannten Kavernen – künstlich ausgelaugten Hohlräumen in Salzstöcken. Diese befinden sich u. a. in Wilhelmshaven-Rüstringen (39 Kavernen), Heide, Bremen-Lesum und Sottorf bei Hamburg und bieten zusammen über 15 Mio. Kubikmeter Speichervolumen. Betrieben werden sie von der EBV-Tochter NWKG – das ist aktuell der größte Flüssigkavernenbetreiber Europas.

Legt man den durchschnittlichen Tagesverbrauch von ca. 250.000 Tonnen zugrunde, lässt sich Deutschland im Notfall damit etwa 96 Tage vollständig versorgen – wohlgemerkt ohne Nachschub. In der Realität kommen dann zusätzliche Vorräte in Raffinerien, kommerziellen Lagern und Importterminals hinzu. Ein Totalausfall ist damit kurzfristig auffangbar – zumindest auf dem Papier.

Natürlich ist das keine Endzeitreserve, sondern ein sicherheitspolitisches Netz. Die Freigabe erfolgt nur bei echter Versorgungskrise – ausgelöst durch geopolitische Eskalation, Naturkatastrophen oder schwere Marktverwerfungen. Und wenn es so weit kommt, greifen abgestufte Pläne: Versorgung kritischer Infrastrukturen zuerst, Individualverkehr später. Eine staatlich verordnete Priorisierung also – nichts, was man oft üben will.

Jetzt stellt sich die berechtigte Frage: Wie steht Deutschland da im europäischen Vergleich?

Tatsächlich ziemlich gut. Die EU schreibt 60 Tage Pflichtreserve vor, Deutschland orientiert sich an der ambitionierteren 90-Tage-Variante. Andere Länder, wie Frankreich, betreiben ebenfalls strategische Reserven, aber oft zentralisierter und mit weniger geologischer Redundanz. Die Niederlande verfügen über extrem flexible Handelsstrukturen (Stichwort: Rotterdam), aber bei physischer Lagerkapazität sieht es dort magerer aus. Polen und Ungarn haben historisch stark von Russland abhängig gelagert – was derzeit mühsam umgestellt wird. Und die Schweiz? Hat zwar detaillierte Pflichtlagerpläne, ist aber ohne eigene Seehäfen logistisch natürlich deutlich anfälliger.

Deutschland vereint also Größe, Tiefe und Organisation: große unterirdische Speicher, breit verteilte Infrastruktur, rechtlich festgelegte Mindestmengen, und mit dem EBV eine eigenständige Organisation, die nicht erst bei Krise improvisieren muss. Das ist – nüchtern betrachtet – eine der robustesten Ölbevorratungsstrategien Europas, auch wenn die Importabhängigkeit naturgemäß bleibt.

Warum dann überhaupt noch selbst fördern? Ganz einfach: Es lohnt sich (noch). Die Technik steht, die Felder liefern, und solange die Kosten unter dem Importpreis bleiben, spart man sich wenigstens ein paar Tankerladungen. Symbolik, Versorgungssicherheit, Know-how-Erhalt – das Gesamtpaket ist nicht völlig irrational. Aber man darf sich nichts vormachen: Von echter Eigenständigkeit ist das weit entfernt.

Langfristig wird sich das ändern. Die eigene Förderung sinkt Jahr für Jahr, neue Bohrungen sind politisch kaum durchsetzbar und geologisch praktisch ausgereizt. Die strategische Reserve wird bleiben – aber ihre Rolle wandelt sich. Sie wird nicht mehr Sicherheit gegen Knappheit bieten, sondern Zeit für Anpassung. Und das ist vielleicht auch das wichtigste an diesem ganzen System: Es ist kein Bollwerk, sondern ein Puffer. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

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