Stellen wir uns vor: Deutschland hat im Jahr 2045 das geschafft, was Jahrzehnte lang diskutiert, gefördert und oft belächelt wurde. Die Energiewende ist vollzogen – die Stromversorgung basiert zu 100 % auf erneuerbaren Quellen: Solar, Wind, Wasser, ergänzt durch Speicher, intelligente Netze und ein leistungsfähiges Backupsystem.
Kein Kohlekraftwerk mehr, kein Gas aus Russland, kein Öl für die Stromerzeugung.
Ein riesiger Erfolg, global betrachtet. Und doch: Die Abhängigkeit vom Öl ist nicht verschwunden. Sie hat nur ihre Form geändert.
Strom ist nur ein Teil der Energiefrage
Viele unterschätzen, wie begrenzt der Anwendungsbereich von Strom trotz aller Fortschritte ist. Ja, Strom kann vieles ersetzen – aber nicht alles:
- Straßenbau, Asphalt, Kunststoffe – benötigen Öl als Rohstoff, nicht als Energiequelle.
- Landwirtschaftliche Maschinen, Düngemittelproduktion, Logistik – alles weitgehend dieselbetrieben.
- Industrieprozesse wie Hochtemperatur-Öfen, Zement- oder Stahlherstellung – vielfach noch auf Öl, Kohle oder Gas angewiesen.
- Luftfahrt, Schifffahrt, Schwerlastverkehr – heute noch fast vollständig auf Flüssigkraftstoffe angewiesen.
Die Folge: Selbst wenn unsere Steckdosen „grün“ sind, bleiben die großen, „ölharten“ Infrastrukturen weiter abhängig von einer Ressource, deren Förderfähigkeit zunehmend unter Druck steht.
Weniger Verbrauch = Weniger Problem?
Es klingt logisch: Wenn große Volkswirtschaften wie Deutschland, die EU, China oder die USA ihren Ölverbrauch deutlich reduzieren, sinkt die weltweite Nachfrage. Das nimmt den Druck von der Förderseite – man braucht weniger neue Felder zu erschließen, kann erschöpfte Quellen schonen, der globale Peak verschiebt sich weiter nach hinten. Oder?
✅ Ja, daran ist etwas dran:
- Weniger Verbrauch reduziert kurzfristig den Förderdruck.
Wenn große Konsumenten ausfallen oder ihren Bedarf senken, atmet der Markt durch. Der Ölpreis bleibt stabil(er), aufwändige Projekte müssen nicht hektisch gestartet werden, und die geopolitische Spannung um Ölzugang verringert sich. - Langfristig profitieren die Reserven.
Ein sinkender Verbrauch streckt die vorhandenen Ölreserven zeitlich. Wenn jährlich weniger entnommen wird, wird das Förderprofil flacher. Man gewinnt, rein rechnerisch, Zeit.
Aber:
❗ Diese Logik hat blinde Flecken – sie ist trügerisch.
- Ölförderung funktioniert nicht wie eine Vorratsdose. Man nimmt Öl nicht einfach langsamer aus einem Behälter. Öl kommt aus geologischen Strukturen, die physikalisch-chemisch sehr unterschiedlich reagieren. Je stärker ein Feld ausgebeutet ist, desto ineffizienter und teurer wird die Förderung – oft exponentiell. Förderdruck muss künstlich aufrechterhalten werden (z. B. durch Wasser- oder Gasinjektion), und bei geringer Auslastung lohnen sich diese Verfahren kaum noch.
- Sinkende Nachfrage = Stillstand bei komplexen Quellen. Wenn die globale Nachfrage sinkt, konzentriert sich die Produktion auf die billigsten und einfachsten Quellen. Teure Projekte – etwa Tiefsee-Bohrungen, Teersand-Aufbereitungen, Arktis-Felder – werden wirtschaftlich unattraktiv und stillgelegt. Klingt nach Schonung – ist aber unter Umständen verlorenes Potenzial. Denn viele dieser komplexen Felder wären zwar technisch erschließbar, aber nur bei dauerhaft hohem Ölpreis oder starkem Förderbedarf. → Das Öl bleibt also im Boden – nicht aus Umweltgründen, sondern aus ökonomischen. Und es könnte sein, dass wir später darauf angewiesen wären – dann aber nicht mehr die Mittel, das Know-how oder die Zeit haben, es zu heben.
Paradoxe Folge: Neue Verwundbarkeit trotz sinkendem Bedarf
Selbst wenn Europa, die USA und China ihren Verbrauch stark senken – ein Restbedarf bleibt. Und dieser kleine Anteil wird damit umso kritischer:
- Weil er weniger Anbieter gegenübersteht.
- Weil er aus immer weniger globalen Quellen bedient wird.
- Weil selbst kleine Marktstörungen große Wirkung entfalten.
Gerade bei niedrigem globalem Verbrauch kann ein einzelner Ausfall – sei es ein Streik in Algerien, eine Pipeline-Sabotage oder Sanktionen gegen einen Hauptlieferanten – massiv durchschlagen. Es fehlt dann die Angebotsbreite, um flexibel zu reagieren.
Was folgt daraus?
Die Energiewende kann den Ölbedarf senken – aber sie beseitigt ihn nicht. Und je kleiner der verbleibende Bedarf wird, desto strategischer muss dieser Teil gesichert werden.
Nur so lassen sich folgende Risiken vermeiden:
- Ökonomische Abhängigkeit von wenigen Staaten
- Versorgungslücken bei Düngemitteln, Bauwesen oder Transport
- Inflationäre Schocks durch sprunghaft steigende Ölpreise bei Angebotsschwankungen
…und China?
Ein Land scheint diese paradoxe Lage frühzeitig erkannt zu haben: China.
Während westliche Staaten den Fokus primär auf Dekarbonisierung und technologische Transformation legen, agiert China rohstoffstrategisch – mit langfristiger Perspektive.
Die „Belt and Road Initiative“ ist nicht nur ein Infrastrukturprojekt, sondern auch ein geopolitisches Instrument zur Zugriffssicherung auf Ressourcen – darunter auch Öl. Durch Investitionen, Lieferverträge, Beteiligungen an Raffinerien und Hafenzugängen sichert sich China Zugang zu Förderländern wie Iran, Angola, Irak oder Venezuela – oftmals für Jahrzehnte.
Denn selbst ein niedriger Weltölverbrauch kann zu einem kritischen Vorteil werden – wenn man gezielt die „Reste“ absichert.
China erkennt: Wenn Öl künftig nicht mehr im Überfluss gefördert wird, dann geht es nicht mehr nur um Mengen – sondern um Zugang, Verlässlichkeit, Verteilungsmacht.
Während der Westen hofft, sich durch technologische Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern zu lösen, kombiniert China beides: Energiewende und Rohstoffpolitik.
Man könnte sagen:
China elektrifiziert – aber es sichert sich trotzdem das Öl. Für alles, was sich nicht elektrifizieren lässt.
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👍 Danke für die gute Zusammenfassung